Die Ausnahmetalente

Das Integrationshotel Philippus in Leipzig zeigt, wie Inklusion in serviceorientierten Unternehmen gelingt.


26.09.2018 - Nadine Osterhues -4 MinutenMitarbeiter finden

Im Integrationshotel Philippus in Leipzig arbeiten fast nur Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen. Hotelchefin Marlene Schweiger und ihr Angestellter Felix Matthé erzählen, wie in einem serviceorientierten Bereich Inklusion gut gelingen kann.

Das sagt die Arbeitgeberin: Hotelleiterin Marlene Schweiger

„Meine Angestellten sind überdurchschnittlich motiviert. Das kann ich sagen, weil ich vor meiner Zeit im Philippus in mehreren anderen Hotels beschäftigt war. Viele Menschen arbeiten einfach nur, um Geld zu verdienen oder weil es in einem Unternehmen bequem ist. Meine Mitarbeiter wissen, dass sie wirklich gebraucht werden.

Marlene Schweiger vom Hotel Philippus
© Philippus Leipzig - Marlene Schweiger leitet das Hotel Philippus in Leipzig.

Während der Bewerbungsphase für unser Integrationshotel hatte ich oft voll ausgebildete Hotelfachleute in den Gesprächen. An sie habe ich eine besondere Erwartung: Es ist mir wichtig, dass sie sich im Vorfeld über das Thema Integrationshotel informiert haben. Ich möchte aber auch, dass sie wissen, was sie beruflich leisten können und was sie noch lernen wollen. Diese Gespräche waren punktuell sehr schwierig und lähmend.

Die Hälfte meiner Mitarbeiter hat eine Schwerbehinderung. Aber die Offenheit in ihrer Kommunikation zieht sich durch den gesamten Hotelbetrieb und beeinflusst das Arbeitsklima. Es erleichtert Arbeitsabläufe enorm, wenn die Angestellten wissen, welche Aufgaben sie leisten können. Wir haben ein Klima geschaffen, das dies ermöglicht. Es macht wenig Sinn, sich hinter falscher Scham zu verstecken, so können wir den Betrieb und die Abläufe nicht sicherstellen. Aber dazu gehört natürlich, dass jeder Mitarbeiter sich angenommen fühlt.

Inklusion verlangt Planung

Ich kenne die Unternehmervorurteile gegenüber Inklusion, zum Teil kann ich sie sogar nachvollziehen. Man muss anders planen. Ich habe Mitarbeiter, die keine Betten machen oder schwer heben können. Die müssen von einem anderen beim Zimmerservice begleitet werden. Es ist eine logistische Herausforderung, das Team richtig einzuteilen und es gleichzeitig nicht zu überfordern. Die Ausfallquote ist auch höher, denn Krankheiten und Genesungszeiten dauern länger. Krankmeldungen, weil die Angestellten keine Lust haben, kenne ich dafür nicht!

Ich muss auch mehr Zeit in das Anleiten von Aufgaben investieren. Aber dann läuft es wie von selbst. Unsere Rezeptionistin Eileen zum Beispiel hat nur eine dreiprozentige Sehfähigkeit. Das merkt ihr keiner an. Sie bewegt sich so selbstverständlich in ihrem Terrain, dass man nur staunen kann. Das meistert sie mit einer beleuchteten Tastatur mit extragroßen Buchstaben und durch die disziplinierte Ordnung, die die anderen Teammitglieder halten. Wenn alles seinen Platz hat, schaffen wir für Eileen eine Form der Barrierefreiheit.

Inklusion als Einstellung

Als Arbeitgeber wird man massiv unterstützt: Ich bekomme zum Beispiel einen Minderleistungsausgleich, weil mancher durch die Behinderung Aufgabenteile nicht alleine bewältigen kann. Der Integrationsfachdienst begleitet unsere Mitarbeiter. Wir bekommen Seminare, in denen zum Beispiel Grundzüge der Gebärdensprache geschult werden und vieles mehr.

Beim Thema Inklusion geht es um eine grundsätzliche Einstellung zum Menschen. Es geht um das Potenzial, das man in diesen Menschen sieht, und den Mut, etwas Neues auszuprobieren.

Das Hotel hat nun seit einigen Monaten eröffnet – und es läuft gut. Ich profitiere von Menschen, die ihre Aufgabe ernst nehmen und ein Lob vom Gast („Das Buffet ist ja liebevoll angerichtet!“) als einen Ritterschlag ansehen. Viele der Kollegen haben schwere Schicksalsschläge hinter sich, und sie haben nie aufgegeben. Sie beißen sich durch. Da kann sich nur jeder eine Scheibe abschneiden.“

Das sagt der Angestellte: Felix Matthé, Flächenreiniger im Hotel Philippus

„Für mich ist die Arbeit im Hotel Philippus eine ganz große Chance. Ich reinige Flächen, helfe Gegenstände zu transportieren, bin zur Stelle bei Veranstaltungen. Ich bin der Mann fürs Grobe, und manchmal fragt mich ein Gast, ob ich überhaupt eine Behinderung habe. Man merkt es mir nicht an, dass ich halbseitig gelähmt bin und dass ich Dinge nicht gut im Kopf behalten kann. Im Hotel übernehme ich aber nur Aufgaben, die ich bewältigen kann. Also trage ich keine Teller, beziehe keine Betten und arbeite nicht an der Rezeption. Ich zeige meine Stärken auf anderen Gebieten, und das gibt mir enorm viel Selbstvertrauen.

Ich war sechs Jahre lang erwerbslos aufgrund meiner Behinderung. Damals bin ich in ein tiefes Loch gefallen, ich war extrem antriebslos und zweifelte an mir selbst. Eigentlich bin ich von Natur aus nicht phlegmatisch. Ich war Langstreckenläufer und hatte Spaß in meiner Zeit bei der Bundeswehr. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Ärzte einen faustgroßen Tumor in meinem Kopf entdeckten. Als sie ihn entfernten, lag ich wochenlang im Koma. Klar gehen da Gehirnzellen flöten. Ich muss mir heute jeden Pieps aufschreiben. Nach einer weiteren OP erlitt ich einen Schlaganfall und war halbseitig gelähmt. Zack! Neues Leben! Randfigur! Ich wäre wohl immer noch in einem tiefen Loch, wenn meine Eltern mich nicht da rausgeholt hätten. Sie gaben mir den Kontakt zum Integrationshotel Philippus.

Wegbewerben? Auf keinen Fall!

Schon das Bewerbungsgespräch verlief toll. Ich hatte das Gefühl, alles sagen zu dürfen.
Es fiel mir leicht zu sagen, dass ich ein Grobmotoriker bin. Warum lügen? Ich kann tragen, mache nicht so schnell schlapp, habe eine gute Kondition. Eigentlich merkte ich schon beim Reden, dass ich viele Fähigkeiten habe, die auf dem Arbeitsmarkt von Nutzen sein könnten.

Im Hotel habe ich ein Stück weit mein altes Körpergefühl zurückbekommen. Ich fühle mich wieder leistungsfähig. Manchmal muss ich aufpassen, dass ich nicht zu viel arbeite, aber dann sagt meine Chefin: Junge, geh nach Hause!

Da die halbe Belegschaft aus körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen besteht, fühle ich mich nun nicht mehr wie eine Randfigur. Im Umgang mit den anderen merke ich ziemlich genau, wie sehr ich auch von ihnen gebraucht werde. Es tut gut, nicht immer nur hilfsbedürftig zu sein, sondern auch anderen helfen zu können. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mich von diesem Arbeitsplatz wegzubewerben.“


Titelfoto: © Hotel Philippus