Wie Führung in Krisenzeiten gelingt

Psychologin Franziska Stiegler erklärt, wie man aus der Ferne führt, seinen Mitarbeitern Halt gibt und es schafft, sie und sich nicht zu überfordern.


15.04.2020 - Annette Vorpahl -9 MinutenRichtig führen

Kurzarbeit, Homeoffice-Regelungen, Arbeitsschutzmaßnahmen, Krisenmanagement und nicht zuletzt die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter: In der Corona-Krise sind Führungskräfte mehr denn je gefragt. Worauf kommt es in der momentanen Situation an? Wie rede ich am besten mit meinen Mitarbeitern? Wie organisiere ich Homeoffice für alle? Und wie schaffe ich es, nicht in der Arbeitsflut zu ertrinken? Antworten gibt die Psychologin Franziska Stiegler, Referentin für Gesundheitsförderung beim Dachverband der BKK.

Welche Rolle spielen Führungskräfte in der aktuellen Krise?

Eine ganz zentrale. Die Haltung der unmittelbaren Führungskraft ist für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entscheidend und hat einen großen Einfluss auf die Gesundheit. Momentan ist jeder verunsichert. Was wird morgen sein? Ist nach Ostern alles vorbei? Führungskräfte sind deshalb mehr denn je aufgefordert, Gesicht zu zeigen, sich zu informieren und Informationen weiterzugeben. Das allein ist schon eine Mammutaufgabe in Zeiten schneller, ständig neuer und widersprüchlicher Informationen. Zusätzlich müssen sie psychologisches Krisenmanagement betreiben, während sie gleichzeitig selbst betroffen sind. Klarheit und Souveränität strahlt aus, wer Bescheid weiß, aber auch, wer offen zugibt, dass er oder sie nicht auf alles eine Antwort hat. Führungskräfte haben eine Vorbildfunktion: Wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die offiziellen Verhaltensregeln einhalten sollen, dann müssen das die Vorgesetzten vorleben.

Wie kann eine klare, transparente Kommunikation gelingen?

Das Aufmerksamkeitsbedürfnis der Beschäftigten ist gerade sehr hoch. Ein guter Informationsfluss vermeidet Panik und gibt Orientierung. Jede und jeder ist dankbar für gute, sachliche Handlungsanleitungen. Wie wird wann und von wem berichtet? Benennen Sie Herausforderungen, vor denen alle gemeinsam stehen. Fragen Sie täglich, wo es Schwierigkeiten gibt, wer Unterstützung braucht. Machen Sie deutlich, wann Sie ansprechbar sind. In größeren Betrieben kann es sinnvoll sein, einen Krisenstab zu bilden. Bieten Sie Informationen an, aber drängen Sie sie niemandem auf. Hinterfragen Sie Selbstverständlichkeiten: Wir gehen häufig davon aus, dass alle verstanden haben, wenn wir etwas gesagt haben. Im Nachhinein merken wir, dass Missverständnisse auftauchen. Fragen Sie am Anfang einer Teamsitzung: „Wo stehen wir?“ Nicht nur, was die Ergebnisse angeht, sondern auch, wie alltägliche Herausforderungen unter den neuen Umständen bewältigt werden. Das reicht betont kurz. Am Ende der Sitzung vergewissern Sie sich: „Was haben Sie mitgenommen?“

Welche Bedeutung hat die Wortwahl?

Es geht um eine lösungsorientierte Ansprache. Vermitteln Sie Sicherheit, indem Sie positive und neutrale Begriffe wie „Lösungen“, „Empfehlungen“, „Pläne“ oder „Unterstützung“ verwenden. Verzichten Sie auf Wörter wie „Infektion“, „Ansteckungsrisiko“ oder „Todesfälle“, die ein Bedrohungsszenario heraufbeschwören. Die meisten Menschen sind ausreichend sensibilisiert.

Reden oder Zuhören: Was ist als Führungskraft jetzt wichtiger?

Wir haben es mit einem Marathon zu tun, nicht mit einem Sprint. Durchregieren ohne ein offenes Ohr wird nicht funktionieren. Klare Ansagen und ein offenes Ohr sind gleich wichtig. Die Coach-Funktion einer agilen Führungskraft ist ein modernes Wort für die Fürsorgeverantwortung. Führung heißt: aufs Team schauen, klar kommunizieren, schnell reagieren, fragen, wie wir das gemeinsam stemmen können. Lösungen können sein: Arbeiten umverteilen, Prioritäten der Situation anpassen, in Schichten arbeiten, klare Vorgaben machen. Dabei hilft es, den „Ansagen“ einen zeitlichen Rahmen zu geben und diesen einzuhalten. Berücksichtigen Sie, dass einige Beschäftigte in diesen Zeiten sehr stark gefordert sind, während bei anderen die üblichen Anforderungen entfallen, da bestimmte Geschäftsfelder zurzeit nicht existieren oder Aufgaben nicht erledigt werden können.

Covid-19 lässt uns alle spüren, wie flüchtig und unsicher unsere Welt ist: täglich neue, teils widersprüchliche Nachrichten und Verhaltensvorgaben, exponentiell wachsende Fallzahlen, radikal reduzierte Planbarkeit. Wie schaffen es Führungskräfte, „auf Sicht zu fahren“ und Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Orientierung zu geben?

Das richtige Tempo zu finden ist herausfordernd. „Auf Sicht fahren“ erfordert viel Geduld, Mut und Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen. Orientierung geben Sie, indem Sie immer wieder die Sinnhaftigkeit der aktuellen Maßnahmen und Einschränkungen erläutern. Das „Wie machen wir das?“ sollte immer mit dem „Warum machen wir das?“ ergänzt werden. Betonen Sie, was Sie und Ihre Teams jetzt beeinflussen können. Welche Regeln müssen alle beachten? Jetzt geht es vor allem darum, die Kurve der Neuansteckungen abzuflachen und besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen. Diese zwei einfachen Botschaften sind am wirksamsten. Übertragen Sie sie auf die Entscheidungen für den Betrieb. So können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Eigen-)Verantwortung in der aktuellen Lage übernehmen.

Wie geht es Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Krisenzeiten?

Menschen reagieren sehr unterschiedlich: von totaler Verleugnung über Sensibilität bis hin zu Panik. Natürlich ist das auch tagesformabhängig. Behalten Sie Ihr Team im Blick. Besonders aufmerksam sollten Sie werden, wenn das Verhalten einer Person irritierend ist. Wenn jemand immer zupackend und offen war und jetzt panisch reagiert, ist das ein Grund nachzufragen, Hilfe anzubieten. Zudem gibt es in vielen Unternehmen Unterstützungsangebote wie eine Gesundheits- oder Sozialberatung, einen Betriebsarzt. Die sollten Sie unbedingt und wiederholt kommunizieren.

Welche Haltung sollten Vorgesetzte einnehmen, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verstärkt im Homeoffice arbeiten?

Die Situation ist für alle neu und ungewohnt. Es herrscht Ungewissheit und Sorge, ob und wie das gehen kann. Über die Einführung von klaren Regeln, Terminen und Ergebnissen, die am Ende stehen sollen, lässt sich das jedoch gut steuern. In der Organisation sollten die Möglichkeiten der Flexibilisierung entschieden und klar kommuniziert werden. Können Überstunden abgebaut, Urlaubstage genommen oder Schichten eingeführt werden? Treffen Sie klare Anweisungen, was bis wann zu erledigen ist. Damit machen Sie deutlich, dass das Ergebnis zählt, nicht der Weg, also wann die Aufgabe erledigt wird.

Einigen Führungskräften fällt es schwer, zu glauben, dass jemand überhaupt zu Hause arbeitet. Sie denken, da wird Wäsche gewaschen, gekocht, die Kinder bespielt.

Nichts ist schlimmer als ein überraschender Kontrollanruf des Chefs. Vertrauen in Ihre Mitarbeiter ist die Voraussetzung dafür, dass Sie und das Team die kommende Zeit erfolgreich meistern. Umgekehrt brauchen Mitarbeiter Vertrauen in Sie, dass sie sich mit ihren Fragen und Problemen an Sie wenden können. Wer ein misstrauisches Gefühl hegt, sollte die betreffende Mitarbeiterin oder den betreffenden Mitarbeiter persönlich ansprechen und zunächst Hilfe anbieten, sich vergewissern, dass das Misstrauen berechtigt ist. In den meisten Fällen löst sich die Situation dadurch. Sollte das nicht ausreichen, muss auch in diesen Zeiten ein Machtwort gesprochen werden. Alles andere hat Einfluss auf das Gerechtigkeitsempfinden im Team.

Wie können Führungskräfte einen Rahmen schaffen, in dem sie und ihre Teams im Homeoffice weiterhin sicher und ungestört arbeiten können?

In vielen Betrieben fehlte zunächst die technische Infrastruktur. Oft waren keine Laptops vorhanden oder keine sicheren Netzwerke – das ist ein hoher Stressfaktor und organisatorisch eine Riesenherausforderung. Versuchen Sie die Aufgaben an die technischen Rahmenbedingungen anzupassen. Sind diese vorhanden, sind feste, regelmäßige Termine wichtig. Vereinbaren Sie regelmäßige Telefon- und Videokonferenzen je nach Größe des Teams – zum Beispiel als Start in den Tag oder in die neue Woche. Nutzen Sie den Termin, um zu klären, was für jeden ansteht, wie die Arbeit läuft, wo der Schuh drückt. Kontinuität gibt Sicherheit, und in der Routine liegt viel Kraft. Finden Sie Zeiten, zu denen alle präsent sein können: eine Stunde vormittags, eine Stunde nachmittags. Auch Einzelgespräche mit jedem Teammitglied sind möglich und vielleicht wichtiger denn je. Überlegen Sie nach einer Woche: Hat das funktioniert? Was müssen wir verändern? Motivieren Sie die Teamkollegen, regelmäßige Pausen zu verbringen. Informelle Kontakte sind das soziale Schmiermittel von Teams.

Was gilt für Führungskräfte in der Sandwichposition?

Führungskräfte im mittleren Management sind von der Stressbelastung am stärksten betroffen. Sie haben hierarchisch gesprochen „Entscheider“ über sich und „offene Fragen“ unter sich. Zentral ist hier also die Kommunikation, die oft schon im normalen Betrieb herausfordert. Wichtig ist es, transparent zu bleiben – nach oben wie nach unten – und sich als „Kommunikationsmanager“ zu verstehen, der vielleicht nicht alles direkt weiß, aber sich bemüht, es herauszufinden. Es hilft, nicht alles persönlich zu nehmen.

Was gilt für junge, unerfahrene Führungskräfte? Was können sie tun? Wie können sie handeln?

Die Situation ist überwältigend für alle – bloß keine falsche Eitelkeit an den Tag legen. Ideal wäre es, erfahrene Führungskräfte oder einen Mentor zurate zu ziehen oder Führungskräfterunden zu nutzen. Fragen stellen, Unsicherheiten zugeben sind der Beweis dafür, dass man eine verantwortliche Führungskraft ist. In Organisationen, in denen keine offene Kultur etabliert ist, kann dieser Ausnahmezustand ein Anfang dafür sein.

Bietet die aktuelle Situation auch Chancen, wenn ja, welche?

Die Krise bietet Unternehmen die Chance zusammenzuwachsen. Solch eine Erfahrung zu durchleben, kennt man vielleicht von guten Freunden oder vom Partner. Wenn man gemeinsam da durchgegangen und es gut gelaufen ist, schafft es enormes Vertrauen. Das kann hilfreich sein für die künftige Arbeitsatmosphäre und Firmenkultur. Vielleicht werden Dienstreisen überdacht; es kann künftig mehr Wertschätzung für den persönlichen Kontakt geben. Gleichzeitig zeigen sich Themen der Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens: beispielsweise Chancen und Grenzen digitaler Formate.

 „Der Kapitän geht als Letzter von Bord.“ „In der Krise muss man selbst zurückstecken.“ Was halten Sie von solchen Formeln?

Es nützt niemandem sich zu überfordern. Hingegen entspricht das Gefühl, wir teilen die Last, dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. Gut ist es, Signale zu senden, wie zum Beispiel auf Dividenden und Boni zu verzichten. Aus eigenen Studien wissen wir, dass Fairness einen sehr großen Einfluss auf die psychische Gesundheit und das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat. Und zwar nicht nur in Krisenzeiten. Was das „von Bord gehen“ betrifft, erlebe ich momentan eher den Wunsch, alle an Bord zu halten.

Was lernt man in Krisenzeiten über sich selbst, seine Mitarbeiter und sein Unternehmen?

Führungskräfte erfahren etwas über ihre Widerstandsfähigkeit und die eigenen Reserven. Man bekommt einen Außenblick aufs Unternehmen – Schwächen und Stärken werden deutlich. Teams, die sich vorher nicht mal kannten, kooperieren plötzlich über Abteilungsgrenzen hinweg. Prozesse, die sonst als Selbstverständlichkeiten gelten, werden sichtbar, und es gelingt, sie mehr wertzuschätzen. Alle sind aus der Komfortzone katapultiert, da ist neues (Kennen)Lernen möglich.

Was kann ich mir als Führungskraft zurzeit selbst Gutes tun?

Mir eingestehen, dass auch ich eine solche Situation erst einmal verarbeiten muss: vom Schock zur Verleugnung über die Wut bis hin zum langsamen Annehmen. Es gilt wie im Flugzeug: Bevor ich anderen helfe, sollte ich dafür gesorgt haben, dass ich selbst noch Luft bekomme. Das mag egoistisch klingen, ist aber notwendig, um die Strecke durchzuhalten. Dann die eigenen Erwartungen drosseln: Was muss unbedingt getan werden, was kann vertagt werden? Pausen macht man im Krisenmodus ungern, sie sind aber gerade jetzt doppelt so wichtig. Alle eineinhalb Stunden einen Wecker stellen, aufstehen, aus dem Fenster schauen, tief durchatmen, sich fragen, wie es einem gerade geht, sich bei Bedarf austauschen, auch mal Dampf ablassen. Für uns alle ist es gerade wichtig, auf Routinen zu achten: morgens nicht direkt vom Bett an den Rechner, regelmäßig und gesund essen. Nur wer fit ist, kann seiner Rolle gerecht werden.


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