
Industrie 4.0
Schritt für Schritt digital
Wie sollen kleinere Betriebe mit der Digitalisierung umgehen? Loslegen und gucken, was passiert, rät Schuhmachermeister Markus Schott. Der MyVale-Gründer hat festgestellt: Dann geht mehr als erwartet.
Video
Die Fabrik der Zukunft
In der Fabrik der Zukunft unterhalten sich Maschinen, Werkstücke und Roboter miteinander. Der Mitarbeiter muss planen, steuern und kontrollieren. Unser 60-Sekunden-Video erklärt die Abläufe in der Fabrik der Zukunft.
Qualität ohne Ausfallzeiten
Auch Weidmüller probiert die digitale Vernetzung vorerst in einem Pilotprojekt aus. 1,5 Millionen Euro hat der Hersteller von kleinen Elektronikteilen in eine neue Stanz-Biege-Maschine investiert. Eine Kamera erfasst Schwankungen in der Materialstärke, woraufhin per Rechner die Kraft der Maschinenwerkzeuge in Sekundenbruchteilen auf die jeweiligen Werte abgestimmt wird. Das garantiert eine konstante Qualität, zudem geht kaum Material verloren, und es vermeidet teure Ausfallzeiten. Das Einrichten für einen neuen Auftrag dauert nur Augenblicke, ein Mitarbeiter stellt die Systeme mit zwei, drei Fingerstrichen auf einem Monitor ein. Das fixe Umrüsten ermöglicht ein Produzieren nach Kundenwunsch und in kleinen Stückzahlen zu dennoch niedrigen Fertigungskosten und bei kurzen Lieferzeiten. „Wir entwickeln das Selbstkorrektur-Konzept Schritt für Schritt weiter“, sagt Entwicklungschef Jan Stefan Michels. Schon bald sollen sich ganze Fertigungslinien selbst kontrollieren.
Bald, nicht schon morgen. Die Digitalisierung klopft zwar ungeduldig an, doch werden die Türen nur vorsichtig geöffnet. Unternehmen beschränken sich meist auf Pilotprojekte. Sie wissen: Damit Sensoren und Maschinen sich austauschen können, müssen sie dieselbe Sprache sprechen oder einen verlässlichen Übersetzer finden. An beidem hapert es. Das wollen Konzerne ändern – teils miteinander, teils in Konkurrenz. „Auf verbindliche Standards warten viele Mittelständler“, sagt Vivien Lo, Volkswirtin der KfW Bankengruppe. Je schneller eine Verständigung erzielt wird, desto eher können sie profitieren.
Jeder in seinem eigenen Tempo
Markus Schott ist längst losgeprescht, auch wenn davon in seiner Werkstatt auf den ersten Blick nichts zu erkennen ist. Ein Mitarbeiter schlägt winzige Nägel in einen Schuh, sein Nebenmann bestreicht Sohlen mit Klebstoff. Jeder Schuh wird hier nach Maß gefertigt. Schott eilt weiter, er will etwas anderes zeigen und öffnet die nächste Tür. Neben einem Laufband liegt eine Platine, grün mit silbrigen Linien, die Silhouette ist geformt wie ein Fußabdruck. Die Fußplatine wird in den Schuh des Kunden gelegt und meldet beim Laufen auf dem Band exakt, wo wie viel Druck auf der Fußsohle lastet. Der Computer überträgt das Ergebnis auf einen Bildschirm – und Schott weiß, wo er entlasten muss.
„Als das Gerät angeschafft wurde, sprang mein Vater im Dreieck“, erzählt Schott junior. Karl-Heinz Schott ist ebenfalls Schuhmacher, wie schon sein Vater und dessen Vater. Computer und Handwerk passten für ihn nicht zusammen, auch wenn mittlerweile selbst Handball- und Fußball-Nationalspieler mit den Platinen aufs Laufband steigen. Ein paar Platinen digitalisieren noch keinen Betrieb, das ist Schott klar. Er zeigt sie aus einem anderen Grund: „Digitalisierung beginnt damit, zu erkennen, wo digitale Technik von Nutzen ist.“
„Digitalisierung beginnt damit, zu erkennen, wo digitale Technik von Nutzen ist.“Markus Schott, MyVale-Gründer
Was bleibt den Menschen zu tun?
Bisher haben Maschinen den Menschen bei der Arbeit geholfen, demnächst übernehmen sie immer mehr. Busse und U-Bahnen verzichten auf Fahrer, Steuerberater werden durch Software ersetzt, ebenso Makler und Buchprüfer. Auf 92 Prozent beziffern die Oxford-Forscher Michael Osborne und Carl Benedict Frey die Wahrscheinlichkeit, dass Verkäufer komplett aus den Geschäften verschwinden werden. Wenn Maschinen so viele Aufgaben übernehmen, was bleibt dann für die Menschen zu tun?
Genügend. Schon immer hat der Fortschritt vertraute Tätigkeiten verdrängt und dabei neue Professionen erschaffen. Vor 100 Jahren waren Böttcher oder Stellmacher geläufige Berufe, so wie noch vor 50 Jahren Tankwart oder Technischer Zeichner. Sie alle sind so gut wie ausgestorben, trotzdem geht den Menschen die Arbeit niemals aus. Der aktuelle IAB-Forschungsbericht „Industrie 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Wirtschaft“ prognostiziert, dass mehr als „490.000 bisher bestehende Arbeitsplätze bis 2025 verloren gehen, jedoch auch 430.000 neue entstehen“, vor allem im Dienstleistungsbereich.
Doch je simpler die Aufgabe, desto leichter kann sie von Maschinen erledigt werden. „Für die Beschäftigten heißt das: lebenslanges Lernen“, sagt Arbeitsagentur-Experte Stephani. „Und für ihre Arbeitgeber: Weiterbildung ermöglichen.“ Denn viele Berufe entwickeln sich durch die Digitalisierung weiter, so wie sich der Kfz-Mechaniker zum Mechatroniker wandelte.
„Bei Industrie 4.0 steht der Mensch im Mittelpunkt“, sagt Peter Stephan, der sich bei Wittenstein täglich mit der Digitalisierung beschäftigt: „Er wird die Rolle eines informierten Entscheiders übernehmen.“ Dafür muss er allerdings entsprechend qualifiziert sein. Das hat auch das Bundesarbeitsministerium erkannt: „Die künftigen Anforderungen der Arbeitswelt erfordern besser (aus-)gebildete Arbeitskräfte“, steht im aktuellen „Grünbuch Arbeit 4.0“. Neben Fach- und IT-Kenntnissen sind „verstärkt soziale und personale Fähigkeiten wie Problemlösungskompetenz, Kreativität, Kommunikationsstärke oder die Fähigkeit zu ganzheitlichem und vernetztem Denken nachgefragt – Kompetenzen, mit denen man für viele Branchen gewappnet ist“.
Cool. Und orthopädisch
Genau solche Mitarbeiter sucht auch Markus Schott für MyVale. Digitalisierte Prozesse sind mehr als Zwischenschritte im klassischen Handwerk, sie sind Matrix seines Geschäftsmodells, der „Sandalen nach Maß“.
MyVale zeigt beispielhaft, wie Handwerker die digitale Welt erobern können – wenn sie bereit sind, sich darauf einzulassen. Der Kunde merkt nichts davon. Er wählt weiterhin sein Modell auf der MyVale-Seite und erhält per Post eine Box, in die er mit beiden Füßen steigt, um Abdrücke zu nehmen. Aus der zurückgeschickten Box wird dann ein Profil seiner Fußsohlen gescannt – Grundlage für die Sandale.
Für Markus Schott hat sich eine Menge verändert, denn er musste alle Prozesse einem neuen Warenwirtschaftssystem anpassen. Die Website setzte er neu auf – die Programme konnten nicht miteinander. Drei Jahre dauerte es, bis alles rund lief.
Heute erhält jede hinausgeschickte Box einen Barcode, der dafür sorgt, dass Inhalt und Status der Bestellung sich jederzeit überprüfen lassen. Kehrt eine Box in die Werkstatt zurück, geht automatisch eine Mail an den Kunden: Die Abdrücke sind da und brauchbar. „Vorher fragten die Kunden ständig telefonisch nach“, erzählt Schott. Die gewünschten Materialien werden elektronisch verbucht, und das System meldet automatisch, wenn eine Ledersorte knapp wird. „Früher hatten wir mal 40 Bestellungen für Sandalen mit blauer Sohle – aber nur noch Material für 30 auf Lager“, erinnert sich Schott. „Also mussten wir Kunden vertrösten.“
Schott hat auch die Fertigung digitalisiert. 2012 kaufte er eine neue Fräse, die gleichzeitig mehrere Paar Sandalen ausschneidet – jede mit einem Fußbett nach Maß. Solche Maschinen gibt es nicht ab Werk. „Wir haben monatelang modifiziert, bis die Fräse endlich konnte, was wir von ihr wollten.“ Nämlich mehr – Markus Schott ist schließlich Orthopädieschuhmachermeister und will das Fußbett der MyVale-Kunden durch orthopädische Kniffe optimiert wissen.
Das Unternehmen neu denken
Er hätte allen Grund, zufrieden zu sein. Als Einzelkämpfer übernahm er im Jahr 2000 den elterlichen Betrieb, ein paar Jahre später beschäftigte er bereits fünf Angestellte. Heute sind es zwei Dutzend, die Auszubildenden mitgezählt.
Als Schott im Jahr 2008 die Website baute, schimpfte sein Vater noch über die „Flausen“. Wer würde maßgeschneiderte Sandalen im Internet bestellen? Beim Start waren es 800 Menschen, im Jahr darauf etwa 3.500 und heute sind es bald doppelt so viele. MyVale schreibt schwarze Zahlen. Schott hat sich darauf eingelassen, sein Unternehmen neu zu denken – vom Kunden her. Der kann sich seine Wunschsandale neuerdings am Bildschirm zusammenstellen, komplett digital.
Alles wunderbar, zumindest für den Moment. Aber der vergeht schnell, das hat Schott begriffen. Deshalb könnte er die Fräse bald durch einen 3-D-Drucker ersetzen. Einer, der verschiedene Materialien in unterschiedlichen Festigkeiten in maximal zehn Minuten zu einer passgenauen Sandale vereint. Genau das braucht Schott nämlich. Wenn so ein 3-D-Drucker auf den Markt kommt, klar, wird er sofort zugreifen.
Glossar
Was ist Industrie 4.0?
Industrie 4.0 ist ein Begriff, der Konjunktur hat. Doch worum geht es eigentlich? Auf der grundlegenden Ebene ist Industrie 4.0 der Eintritt der Produktion ins entwickelte Informationszeitalter – digital, vernetzt, flexibel. Das Schlagwort meint eine auf Vollautomatik ausgerichtete, mit Lieferanten, Partnern und Märkten vernetzte hochflexible Produktionsstätte, die der personalisierten, individuellen Produktion verpflichtet ist: der Losgröße 1. Produkte werden nach den Erfordernissen und Bedürfnissen einzelner Kunden gefertigt. Das schließt Großserien nicht aus, wobei sich die Produkte in ihrer Funktion und ihrem Aussehen aber deutlich unterscheiden können. Zudem warten sich die Systeme zusehends selbst. Massenproduktion wird es zwar weiterhin geben, aber neue Märkte und Wachstum generieren Unternehmer vor allem durch flexible, individuelle Produkte.
Was heißt das für den Arbeitsmarkt?
In Deutschland sind heute bereits fünf Millionen Jobs automatisierbar, wie das Mannheimer Forschungsinstitut ZEW errechnet hat. „Machine Learning“ bedeutet dabei, dass Roboter sich Anwendungsbeispiele merken, Gesetzmäßigkeiten erkennen und so neue Situationen meistern können – ganz ohne menschliche Hilfe. Im Audi-Werk in Ingolstadt etwa arbeitet ein Roboter, der denkt und fühlt. Er weiß, wann ein Teil am Montageband benötigt wird und wann er gewartet werden muss. Gleichzeitig schafft die wachsende Digitalisierung nach einer Studie der Boston Consulting Group in den kommenden zehn Jahren knapp 400.000 zusätzliche Jobs in Deutschland.
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Michael Prellberg
Titelfoto: © Julia Unkel
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